Die Alltäglichkeit des Antisemitismus
„Nicht die Erfahrung schafft den Begriff des Juden, sondern das Vorurteil
Jean-Paul Sartre, 1973
fälscht die Erfahrung. Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde
ihn erfinden.“
Fachliche Einführung
Antisemitismus richtet sich gegen jüdische und nichtjüdische Individuen, Institutionen und bestehende sowie konstruierte Gruppen. Dabei geht Antisemitismus mit rein fiktiven Stereotypen, Fremdzuschreibungen und Gruppenkonstruktionen einher. Antisemitismus hat daher nichts mit Juden selbst oder ihrem Verhalten zu tun, sondern vielmehr mit einer imaginären Vorstellung von „den Juden“. Eine wichtige Frage ist daher: Welche Funktionen erfüllt der Antisemitismus für den Antisemiten bzw. für den, der sein Handeln mittels antisemitischer Denkmuster und Erklärungen begründet?
Antisemitismus dient, ähnlich wie Verschwörungsideologien generell, oft folgenden Funktionen:
Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion:
Den komplexen, für den einzelnen Menschen oft nicht zu überblickenden und gänzlich zu verstehenden gesellschaftlichen Prozessen und Ereignissen wird eine einfache Welterklärung von Gut gegen Böse entgegengesetzt. Menschlichem Leid sowie eigenen negativen Erfahrungen, Versagen und unbefriedigenden Situationen wird ein Sinn gegeben und gegebenenfalls dafür bereits ein Schuldiger präsentiert.
Identitätsfunktion:
Durch die Konstruktion und Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdgruppen sowie die Abwertung dieser Fremdgruppen bzw. die negativen Zuschreibungen an diese werden das eigene Selbstbild bzw. die eigene Gruppe aufgewertet.
Sowie: Kompensation eigener Ausgrenzungserfahrungen, Legitimation des eigenen Handelns (vor allem im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung Gut gegen Böse) und Beeinflussung anderer Menschen (zum Beispiel durch Präsentation eines Sündenbocks).
Antisemitische Vorstellungen, Ressentiments und Erklärungsmuster schlagen sich in konkreten Handlungen bis hin zu Straftaten nieder. Diese Handlungen kommen alltäglich und in fast allen sozialen Milieus vor.
Ziele:
- Die Teilnehmenden sind sensibilisiert für Antisemitismus als ein aktuelles, alltägliches und gesamtgesellschaftliches Phänomen.
- Die Teilnehmenden bekommen einen Einblick in die Funktionen und Charakteristika von antisemitischen Erklärungsmustern, Denk- und Verhaltensweisen und setzen sich damit auseinander.
- Die Teilnehmenden setzen sich mit Alternativen zu solchen Denkweisen auseinander und werden in der Auseinandersetzung mit antisemitischen Erklärungsmustern sowie hinsichtlich der Selbstreflexion gestärkt.
Kurzablauf:
Ablauf | Methode | Material | Zeitumfang |
---|---|---|---|
Beispiele von antisemitischen Handlungen und Äußerungen | Fragend-entwickelnde Methode Alternativ: Gruppenarbeit | Beamer/Arbeitsblätter Flipchart/Tafel | 25 Minuten |
Rekapitulation | Fragend-entwickelnde Methode Alternativ: Gruppenarbeit | Flipchart/Tafel | 20 Minuten |
Abschluss Alternativen des Handelns | Fragend-entwickelnde Methode Alternativ: Gruppenarbeit | Flipchart/Tafel | 15 Minuten |
Ablauf:
1) Präsentieren Sie mehrere Beispiele für antisemitisch motivierte Handlungen oder Straftaten. Im Anhang finden sich mehrere aufbereitete Fälle, die Sie gern verwenden können.
Führen Sie bei jedem einzelnen Beispiel folgenden Ablauf durch und halten Sie die Ergebnisse für alle sichtbar fest, zum Beispiel als Tabelle an einer Tafel bzw. einem Flipchart. Wichtig: Lassen Sie sich offen, eine vierte Spalte hinzuzufügen, bzw. bereiten Sie diese Spalte unbenannt vor.
- Lassen Sie das Beispiel vorlesen. Grundsätzlich ist hier auch Gruppenarbeit möglich. Teilen Sie dann die Beispiele auf die Gruppen auf und lassen Sie die Fragen in den Gruppen bearbeiten. Sammeln Sie abschließend die Ergebnisse gut sichtbar für alle Teilnehmenden.
- Fragen Sie nach der Tat, also danach, was konkret passiert ist, und halten Sie die Antwort fest.
- Fragen Sie nach dem Motiv des Täters/Handelnden: Warum hat er die Tat
begangen? Wie rechtfertigt er selbst die Tat? Halten Sie die Antwort fest. - Fragen Sie danach, welche Funktion die Tat für den Täter erfüllt/erfüllen könnte: Welche Bedürfnisse des Täters werden dadurch erfüllt? Was bringt die Tat dem Täter? Halten Sie die Antwort fest.
- Verfahren Sie mit dem nächsten Beispiel genauso etc.
Beispiel für die Tabelle:
Tat/Was ist passiert? | Motiv des Täters | Funktion der Tat | Alternative Möglichkeiten für die Funktion (zunächst verdeckt) |
---|---|---|---|
Beispiel: Molotowcocktails auf die Wuppertaler Synagoge | Täter wollten auf Politik Israels aufmerksam machen (Aussage der Täter) | Zusammenhang mit Nahostkonflikt; Gleichsetzung: Israelis = Juden; Sinnstiftungs-/ Erkenntnisfunktion (Israel = Feind; Jüdische Gemeinde als Stellvertreter) | Andere Möglichkeiten, auf Nahostkonflikt und empfundene Ungerechtigkeiten hinzuweisen (Diskussion; Flyer; Demo) |
25 Minuten
2) Rekapitulation:
Lassen Sie die Ergebnisse zu den Funktionen und Motiven zusammenfassen und fragen Sie nach wiederkehrenden Motiven. Folgende Sachverhalte sollten dabei deutlich werden und zumindest nochmals thematisiert werden:
- Antisemitische Vorfälle stehen oft im Zusammenhang mit der Erinnerung an den Holocaust und/oder mit dem Nahostkonflikt.
- Antisemitische Handlungen/Straftaten erfüllen oft eine Identitätsfunktion (Selbstbild, Fremdbild, Wir-Gruppe, Die-Gruppe; Aufwertung der eigenen Gruppe; Abwertung der anderen Gruppe).
- Antisemitische Handlungen/Straftaten erfüllen oft eine Sinnstiftungs- und Erkenntnisfunktion (einfache Welterklärung: Gut gegen Böse; „Das Leid hat einen Sinn“; Suche nach Schuldigen für negative Erfahrungen, Situationen oder eigenes Versagen).
- Antisemitische Handlungen/Straftaten dienen oft dazu, eigene Ausgrenzungserfahrungen des Täters zu kompensieren.
- Antisemitische Vorurteile/Ressentiments/Weltbilder dienen oft der Rechtfertigung von Taten (Legitimitätsfunktion).
Sie müssen nicht zwangsläufig alle Funktionen thematisieren. Es ist besser, mit dem zu arbeiten, was von den Teilnehmenden erkannt und geliefert wird. Eventuell werden auch andere Motive/Funktionen herausgearbeitet. Seien Sie dafür offen.
Fragen Sie nach den Tätern: Gibt es Gemeinsamkeiten? Gibt es einen typischen Täter?
→ Es sollte deutlich werden, dass Antisemitismus in den verschiedensten sozialen Milieus verankert ist.
Fragen Sie nach den Opfern: Gibt es Gemeinsamkeiten? Gibt es das typische Opfer?
→ Es sollte deutlich werden, dass sowohl Juden als auch Nichtjuden von Antisemitismus betroffen sind.
20 Minuten
Zum Schluss können Sie nach Alternativen fragen, die den Tätern offenstanden, um die Funktionen, welche die Tat für sie erfüllte, ebenfalls zu erfüllen, zum Beispiel ohne dabei Straftaten zu begehen. Tragen Sie die genannten Alternativen ebenfalls in die Tabelle ein.
Beispiele:
Man könnte zum Beispiel darüber diskutieren, ob es nicht besser ist, die Welt als komplexe Welt anzuerkennen sowie die eigenen Verantwortlichkeiten zu erkennen, vernünftige Handlungsweisen zu entwickeln und damit wirkungsmächtiger in der Welt zu sein, als nach einfachen Welterklärungen zu suchen.
Es könnte zum Beispiel der bessere Weg sein, über eigene Ausgrenzungserfahrungen zu reden und sich auszutauschen, als diese durch die Ausgrenzung anderer zu kompensieren.
15 Minuten
Anhang – Beispiele von antisemitischen Handlungen und Äußerungen
a) Wuppertal: Männer werfen Molotowcocktails auf Synagoge
Bei der Attacke auf die jüdische Gemeinde in Wuppertal waren in der Nacht zum 29. Juli 2014 Molotowcocktails in Richtung der Synagoge geworfen worden. Das Gebäude wurde dabei nicht beschädigt. Laut Polizei waren drei männliche Tatverdächtige am Tatort gesehen worden.
Im Prozess um den Brandanschlag haben die drei Angeklagten die Vorwürfe gestanden. Man habe mit der Tat auf die israelische Militäroffensive im Gazastreifen aufmerksam machen und ein Zeichen setzen wollen, erklärten die Verteidiger der drei 18, 24 und 29 Jahre alten Männer zum Prozessauftakt am Amtsgericht Wuppertal. Man habe jedoch niemanden verletzen wollen.
b) Berlin: Schändung von Stolpersteinen
Im Stadtteil Friedenau wurden mehrere Stolpersteine mit Farbe unkenntlich gemacht. Zudem erhielt eine Bürgerin, die sich für die Verlegung von Stolpersteinen engagiert und in Schulen, Kirchen und der Öffentlichkeit die Erinnerung an die Täter/-innen und Opfer des Nationalsozialismus am Leben erhält, mehrere antisemitische Drohanrufe. Schließlich wurde ihre Wohnungstür in einem Berliner Altbau mit den Worten „Vorsicht Juden-Freundin“ beschmiert und ihr Briefkasten zerstört. Die Täter/-innen konnten bisher nicht ermittelt werden.
c) Hamburg: Der Volksverhetzer im Nobelviertel
„Ich war Samstagnacht mit einer kleinen Gruppe von Leuten in Pöseldorf, im feinsten Viertel Hamburgs, unterwegs. Ich bin über das Geschehen dort so entsetzt, dass ich es teilen will. Mir hat ein Typ ins Gesicht gesagt, dass Juden in die Gaskammer sollen. Als ich ihm sagte, dass ich Jüdin bin und also er mich ermorden will, meinte er: ‚In dem Fall: Ja!‘
In diesem Augenblick war ich einfach nur geschockt und unendlich wütend. Er wollte mir Angst einjagen. Ich sollte die Flucht ergreifen und das Lokal verlassen. Das fand ich unerträglich. Ich wollte auf jeden Fall bleiben und zusehen, dass er gehen muss! Das Schwierige war, dass die Umstehenden, die den Inhalt der Auseinandersetzung wegen der Lautstärke im Lokal zunächst nicht mitbekommen hatten, vor allem den Impuls hatten, den Streit zu schlichten. Nach dem Motto: Hey, es lohnt sich nicht, sich über so jemanden aufzuregen.
Nur einer meiner Freunde hatte die Aussagen von Beginn an mitbekommen. Und er war sehr hartnäckig im Versuch, den Rassisten zu vertreiben. Und damit waren wir zu zweit. Wäre der Volksverhetzer ein Skinhead gewesen, wäre das Feind-Freund-Schema für alle in der Kneipe schneller klar gewesen. So haben sich einfach drei zivilisiert erscheinende Leute gegenseitig angeschrien. Ich war auch so wütend, weil dieser Volksverhetzer fein angezogen war – und er sprach mit der Arroganz von ‚Ich-verkörpere-die-Mehrheitsmeinung‘.“
d) Bonn: Kippa vom Kopf gerissen und in den Schwitzkasten genommen
In einer linksalternativen Kneipe in Bonn wurde ein Jude angegriffen. Als er bestellte, nahm ihn jemand von der Bar in den Schwitzkasten und riss ihm die Kippa vom Kopf. Darauf angesprochen, was das sollte, meinte er: „Ich hätte auch einer Muslima ihr Kopftuch abgerissen, das ist eine religionsfreie Zone!“ Der Besitzer stimmte zu und unterstützte den Angreifer. Daraufhin verließ der Angegriffene die Kneipe. Aus Solidarität mit dem Opfer verließen circa 15 andere Gäste ebenfalls das Lokal.
e) Kommentare auf Facebook zur Bild-kampagne „Nie wieder Judenhass“