Fachliche Einführung
Was ist sekundärer Antisemitismus?
Sekundärer Antisemitismus, auch „Entlastungsantisemitismus“ oder „Antisemitismus wegen Auschwitz“ genannt, hat sich als besondere Form des Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland entwickelt und steht in einem engen Zusammenhang mit der Diskrepanz zwischen der Konfrontation mit den nationalsozialistischen Verbrechen und dem Wunsch, nicht daran erinnert zu werden.
Die Erinnerung an den Holocaust steht einer rein positiven Identifikation mit der deutschen Nationalgeschichte im Weg und wirft schließlich auch die Frage auf, ob die Bedingungen, die den Nationalsozialismus und Auschwitz möglich gemacht haben, bis heute in Deutschland weiter existieren. Der sekundäre Antisemitismus ist Ausdruck einer Abwehr gegen diese Erinnerung und spiegelt den Wunsch wider, sich subjektiv und kollektiv von Verantwortung und Scham zu entlasten. Dabei werden auch immer alte antisemitische Vorurteile reproduziert.
Zur Schuldabwehr werden oft verschiedene Entschuldungsmuster entwickelt. Dazu zählen Vorstellungen, die Juden hätten keinen Widerstand gegen ihre Verfolgung und Ermordung geleistet oder hätten selbst zum Erstarken des Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus und davor beigetragen. Ein weiterer Abwehrmechanismus ist die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen, zum Beispiel durch Betonung und Hervorhebung von nicht jüdischen deutschen Opfern (Bombardierung deutscher Städte, Vertreibungen, Kriegsleiden), aber auch die Gleichsetzung der Politik Israels bezüglich des Konflikts mit den Palästinensern mit dem Nationalsozialismus. Als extreme Form kann der Holocaustrevisionismus gelten. Erkennbar ist ebenfalls der häufige Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr. Den Juden wird dabei vorgeworfen, sie würden, angetrieben durch Rachsucht, Geldgier und Machtstreben, den Holocaust für ihre Zwecke instrumentalisieren und würden die Deutschen mit der „Moralkeule Auschwitz“ einfach nicht in Ruhe lassen. So wird auch suggeriert, dass nur durch den „jüdischen Einfluss in der Welt“ der Holocaust noch Thema wäre und die Juden durch ihr „Wesen“ eine Mitschuld am Holocaust gehabt hätten.
Alle Muster münden letztlich in der Forderung, doch endlich einen „Schlussstrich“ unter die Geschichte des Nationalsozialismus und den Holocaust zu setzen.
Ziele:
- Die Teilnehmenden sind befähigt, sich argumentativ mit Schlussstrichforderungen bezüglich der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust auseinanderzusetzen.
- Die Teilnehmenden reflektieren Geschichtsbilder und -identifikationen sowie Motivationen für die Abgrenzung von negativen oder unbequemen Ereignissen und Personen der Geschichte und erkennen Geschichte als Gesamtheit aller negativen und positiven Ereignisse.
- Die Teilnehmenden nehmen eine differenzierende und individualisierende Sichtweise auf Gruppenkonstruktionen in der deutschen Erinnerungskultur bezüglich des Nationalsozialismus ein (zum Beispiel „die Deutschen“, „die Juden“, „die Opfer“, „die Täter“).
Kurzablauf:
Ablauf | Methode | Material | Zeitumfang |
---|---|---|---|
Zeitstrahl | Brainstorming und Diskussion in Kleingruppen | Tafel/Whiteboard oder großes Blatt Papier | ca. 15 Minuten |
Straßeninterviews und Statements | Video/schriftliche Statements Gruppenarbeit | Arbeitsblatt Tafel/Whiteboard | ca. 15 Minuten |
Zusammenführung | Gruppenarbeit und Diskussion | Tafel/Whiteboard | ca. 15 Minuten |
Abschlussdiskussion | Offene Diskussion | eventuell Tafel/Whiteboard | ca. 10 Minuten |
Ablauf:
1) Zum Einstieg bereiten Sie einen leeren Zeitstrahl vor (zum Beispiel an der Tafel). Teilen Sie die Teilnehmenden zunächst in Gruppen von circa 5 Personen ein. Die Teilnehmenden sollen sich in den Gruppen auf drei ihrer Meinung nach wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte einigen. Fragen Sie danach die Ergebnisse ab und halten Sie diese auf dem Zeitstrahl fest. Lassen Sie die Ergebnisse stehen und teilen Sie den Teilnehmenden mit, dass Sie später noch einmal darauf zurückkommen werden.
15 Minuten
2) Im Anschluss thematisieren Sie Schlussstrichforderungen. Dazu eignen sich Statements von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur oder auch aus Straßeninterviews, in denen Schlussstrichforderungen oder eine ablehnende Haltung gegenüber der Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus geäußert werden. Teilen Sie die Statements als Handouts an die Teilnehmenden aus bzw. spielen Sie die einzelnen Videos der Straßeninterviews ab. Die Teilnehmenden sollen nun die Hauptaussagen und die dazugehörigen Begründungen herausarbeiten. Geben Sie dazu circa 10 Minuten Zeit. Die Aufgabe sollte in Gruppenarbeit erledigt werden, die einzelnen Statements sollten dabei auf die Gruppen aufgeteilt werden. Ein Muster für ein Arbeitsblatt, das auch der Ergebnissicherung dienen kann, finden Sie hier. Lassen Sie danach die Ergebnisse aus den Gruppen zusammentragen.
15 Minuten
Beispieltexte und Videos:
Straßeninterviews
Statements:
Video 1 | Textversion
Video 2 | Textversion
Video 3 | Textversion
Video 4 | Textversion
Martin Hohmann (http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Hohmann)
„Meine Damen und Herren, viele Menschen fordern uns als Deutsche auf, langsam den Mut zu fassen, unseren Freunden zu sagen: Mehr als zwei Generationen nach diesem riesigen Verbrechen fühlen wir uns sozusagen resozialisiert. Warum? Kein Land hat Verbrechen in seiner Geschichte aufgearbeitet und bereut, Entschädigung und Wiedergutmachung geleistet wie wir. Nach christlichen Maßstäben folgt auf Sünde, Reue und Wiedergutmachung das Verzeihen. Freilich, das Verzeihen kann man nicht erzwingen. Aber von Freunden darf man es erwarten. Fast drei Generationen Bußzeit bis heute. Es sollten nicht sechs oder sieben werden. Insofern wäre das Mahnmal auch monumentaler Ausdruck der Unfähigkeit, uns selbst zu verzeihen.“
(Aus Martin Hohmanns Rede im Bundestag am 25. Juni 1999)
Martin Walser (https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Walser)
„Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. […] Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muß ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. […] Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. […] Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“
(Aus der Dankesrede von Martin Walser zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998)
Franz Josef Strauss
„Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“
(Zitat in der Frankfurter Rundschau, 13. September 1969)
Der moralisch überlegene Lehrer
Lehrerinnen und Lehrer nehmen in der Regel in der Institution Schule die Rolle eines Wissenden ein, der den „Unwissenden“ bzw. den unzureichend Wissenden etwas vermittelt. Die Lehrenden stehen symbolisch für die Institution und werden mit dieser identifiziert. Dies wird auch auf die Themen übertragen, die sie vermitteln. Die Lehrenden erscheinen so oft in einer Position des moralisch Überlegenen, gegenüber den moralisch defizitären, aufklärungsbedürftigen Schülern. Das Gefühl, moralisch defizitär zu sein und vor dem vermeintlich moralisch überlegenen Lehrer über einen moralisch besetzten Gegenstand wie Antisemitismus sprechen zu müssen, führt oft zu Abwehrreaktionen und Strategien des Dethematisierens seitens der Schüler. Das Problem des Antisemitismus erscheint ihnen als von außen angetragen, während der Lehrende außerhalb des Problems zu stehen vorgibt und sich nicht rechtfertigen muss.
Pädagoginnen und Pädagogen können diesem Problem entgegenwirken, indem sie diese Machtstruktur aufbrechen. So ist es zu empfehlen, bei Gelegenheit oder im Vorfeld der Diskussion über das Unbehagen zu sprechen, das das Thematisieren eines moralisch besetzten Gegenstands wie Antisemitismus oder der Schuld der Deutschen am Holocaust auslösen kann. (Welche Gefühle sind damit verbunden? Was befürchten die Teilnehmenden? Womit rechnen sie? Wie ist Antisemitismus an anderen Bildungsorten thematisiert worden?) Der Lehrende sollte dabei seine eigene Involviertheit thematisieren. Er kann über sein eigenes Unbehagen und seine eigenen Erfahrungen sprechen. Lehrerinnen und Lehrer können sich so zur Problematik positionieren. Das Problem erscheint nicht mehr nur als Problem der Schüler, sondern als ein für die Gesamtgesellschaft relevantes.
Der Lehrende sollte sich jedoch dabei bewusst sein, dass er durch das Verlassen der moralisch überlegenen Position auch an Souveränität einbüßt und seine eigene Sprecherposition relativiert.
(Vgl. Messerschmidt, Astrid: Selbstbilder, Emotionen und Perspektiverweiterungen in antisemitismuskritischen Bildungsprozessen. In: Widerspruchstoleranz: ein Theorie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit / Hrsg.: Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Berlin, 2013, S. 15 ff.)
2) Thematisieren Sie nun wieder den Zeitstrahl und lassen Sie die Teilnehmenden die gewählten historischen Ereignisse anhand der in Schritt 2 herausgearbeiteten Begründungen zu den Schlussstrichforderungen überprüfen. Fragestellung könnte zum Beispiel sein, welche Ereignisse auf dem Zeitstrahl mit den in den Statements genannten Begründungen als Kriterien noch Teil der deutschen Geschichte wären und welche herausgenommen werden müssten. In der Regel dürften nicht viele Ereignisse auf dem Zeitstrahl verbleiben. Dies kann in Gruppenarbeit mit anschließender Auswertung oder in offener Diskussion erfolgen.
Leiten Sie spätestens jetzt in eine offene Diskussion über und besprechen Sie mit den Teilnehmenden, nach welchen Kriterien Ereignisse als Teil der eigenen/deutschen Geschichte angesehen werden sollten und damit Thema in Gesellschaft und Bildung sein sollten. Lassen Sie zum Schluss die Teilnehmenden jeweils für sich eine eigene Definition finden, was zur eigenen/deutschen Geschichte gehört.
15 Minuten
Zum Abschluss stellen Sie die Frage, ob es heute noch wichtig ist, den Holocaust zu thematisieren und als eigene Geschichte anzunehmen. Die Teilnehmenden sollen diese Frage anhand ihrer eigenen Definition beantworten. Die Antworten sollten allerdings nicht abgefragt, sondern in einer offenen Runde diskutiert werden. Dies soll verhindern, dass sich ein Teilnehmer oder eine Teilnehmerin bloßgestellt fühlt, und soll eine freiwillige Positionierung ermöglichen.
Eine alternative Fragestellung könnte sein, wie mit „negativ“ besetzten Ereignissen der eigenen Geschichte umgegangen werden sollte.
10 Minuten